Welche Auswirkungen hat der Brexit?

Mögliche Szenarien
EU-Kommission ergreift Notfallmaßnahmen

Am 15. Jänner 2019 hat das britische Unterhaus den Austrittsvertrag, der zuvor zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU in knapp 2 Jahren gemeinsam ausgehandelt worden war, abgelehnt.


Mögliche Szenarien

Der Austrittsvertrag für einen geregelten Austritt des Vereinigten Königreichs (Brexit) aus der EU enthält wichtige Einigungen über die Regelung einer Übergangsphase für den Austritt aus der Europäischen Union mit dem Ziel, die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich auf ein stabiles Fundament zu stellen.

Im Zentrum der ablehnenden Haltung gegenüber dem von Premierministerin May für das Vereinigte Königreich ausgehandelten Austrittsabkommen steht bei vielen Abgeordneten im britischen Unterhaus die sogenannte
© Europäische Union / EK
Backstop"-Regelung für Nordirland. Sie würde vorsehen, dass Großbritannien (England, Wales, Schottland) und Nordirland, die gemeinsam das Vereinigte Königreich bilden, für den Fall nach Ablauf der im Austrittsvertrag geregelten Übergangsphase bis Ende 2020 in der Zollunion der EU verbleiben würden, wenn bis dahin kein bilaterales Handelsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU gelten würde. Damit könnte zudem sichergestellt werden, dass das an den EU-Mitgliedstaat Republik Irland unmittelbar angrenzende Nordirland zusätzlich am EU-Binnenmarkt teilnehmen könnte.
Hintergrund für die Backstop-Regelung im 650 Seiten umfassenden Entwurf für den Austrittsvertrag ist das Bestreben, das Entstehen einer „harten" EU-Außengrenze auf der irischen Insel zwischen der Republik Irland, die in der EU bleibt, und Nordirland, das im Zuge des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU die EU ebenfalls verlässt, zu vermeiden.
Eine „harte" EU-Außengrenze würde die Einführung von Grenz- und Zollkontrollen zwischen Nordirland und Irland mit sich bringen, und damit eine empfindliche Einschränkung des kleinen Grenzverkehrs (Güter, Dienstleistungen und Personen) auf der irischen Insel.

Insbesondere im Hinblick auf das 1998 ausgehandelte Friedensabkommen auf der irischen Insel, dem „Good Friday Agreement" (Karfreitagsabkommen), wie auch im Hinblick auf den daraus resultierenden Friedensprozess, der in den letzten 30 Jahren auch mit Unterstützung aus EU-Mitteln u.a. im Rahmen des PEACE-Programms aktiv vorangetrieben wurde, und schließlich im Hinblick auf die allmählich unsichtbar gewordene Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland könnte die – vorübergehende - Backstop-Regelung als eine wichtige Rückversicherung für die Vertragsparteien des Austrittsabkommens gewertet werden.
In den Jänner-Debatten (16. Jänner 2019 und erneut am 30. Jänner 2019) im Europäischen Parlament wurde erneut deutlich, dass die EU27 weiter sehr an einem geregelten Austritt Großbritanniens aus der EU interessiert ist. Das machte - bei beiden Gelegenheiten - EP-Präsident Tajani ebenso deutlich wie die Vertreterin des rumänischen Ratsvorsitzes und Staatssekretärin im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, Melania Ciot, sowie EK-Präsident Jean-Claude Juncker (am 30. Jänner 2019) bzw. EK-Vizepräsident Frans Timmermans (am 16.Jänner 2019) und schließlich EU-Chefunterhändler Michel Barnier (bei beiden Debatten).
Auch wenn die Debatten ganz klar zeigen, dass die EU27 kein Interesse an einem ungeregelten Brexit hat, wurde deutlich, dass die EU auf diesen Fall vorbereitet ist. Darüber hinaus wurde jedoch eine spekulative Debatte über mögliche Szenarien ausgeschlossen.
Ein ungeregelter Austritt („No-Deal"-Szenario) ist jedoch mit der auch im Jänner 2019 anhaltend ablehnenden Haltung im britischen Unterhaus und angesichts fehlender konkreter Lösungsvorschläge für die Lösung der Pattsituation zwischen der EU27 und dem Vereinigten Königreich aus dem Parlament in London wahrscheinlicher geworden.
Im Jänner 2019 betonte EU-Chefunterhändler Barnier erneut, dass ein ungeregelter, d.h. "harter", Brexit zu Einschnitten auf beiden Seiten des Ärmelkanals führen werde, wobei die Folgen insbesondere für die britische Wirtschaft wesentlich schwerer wiegen würden als für die EU27.
Ungeachtet der schwierigen Situation respektiere man jedoch den politischen Prozess und die daraus resultierenden Beschlussfassungen im Vereinigten Königreich.


Geregelter Brexit

Die rechtzeitige Annahme und Ratifizierung des Brexit-Abkommens (vor dem 29. März 2019) durch alle Vertragsparteien (einstimmige Zustimmung der EU27 im Rat sowie Zustimmung des Europäischen Parlaments einerseits und von Regierung und Parlament des Vereinigten Königreichs andererseits) würde einen geregelten Übergang der Beziehungen der EU27 und des Vereinigten Königreichs im Zuge des Brexits ermöglichen.
Insbesondere wären folgende Bereiche durch das Austrittsabkommen abgedeckt:
  • gemeinsame Bestimmungen zur Festlegung von Standardklauseln für das richtige Verständnis des Austrittsabkommens und seiner Funktionsweise;
  • Bürgerrechte zum Schutz der über drei Millionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger im Vereinigten Königreich sowie über einer Million Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreiches in den EU-Mitgliedstaaten, wobei ihr Recht auf weiteren Aufenthalt geschützt wird und gewährleistet wird, dass sie weiterhin als Mitglieder ihrer Gemeinschaft agieren können;
  • Trennungsbestimmungen, mit denen eine geordnete Abwicklung geltender Regelungen sichergestellt und ein geordneter Austritt ermöglicht werden (z. B. die Gewährleistung, dass Waren, die vor Ablauf des Übergangszeitraums in Verkehr gebracht wurden, an ihr Endziel gelangen können, Schutz bestehender Rechte geistigen Eigentums, einschließlich der geografischen Angaben, Abwicklung laufender polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit in Strafsachen und anderer Verwaltungs- und Gerichtsverfahren etc.);
  • ein Übergangszeitraum, in dem die EU das Vereinigte Königreich so behandeln wird, als wäre es nach wie vor ein Mitgliedstaat, mit Ausnahme seiner Mitwirkung in den Organen und Verwaltungsstrukturen der EU; ein Übergangszeitraum, mit dem es insbesondere Verwaltungen, Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger ermöglicht wird, sich an den Austritt des Vereinigten Königreichs anzupassen;
  • die Finanzregelung, mit der sichergestellt wird, dass das Vereinigte Königreich und die EU allen gegenseitigen finanziellen Verpflichtungen, die sie während der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Union eingegangen sind, nachkommen;
  • die allgemeine Governance-Struktur des Austrittsabkommens, mit deren Hilfe die wirksame Verwaltung, Umsetzung und Durchsetzung des Abkommens gewährleistet würden, dazu würden auch geeignete Streitbeilegungsmechanismen gehören;
  • die Bestimmungen bezüglich einer rechtlich praktikablen Backstop-Lösung, mit der sichergestellt werden könnte, dass es in Zukunft keine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland gibt; die im Karfreitagsabkommen (Good Friday Agreement bzw. Belfast Agreement) im Jahr 1998 festgelegten Rechte würden nicht eingeschränkt und die Nord-Süd-Zusammenarbeit auf der irischen Insel würde geschützt;
  • ein Protokoll über die Hoheitszonen auf Zypern und ein Protokoll zu Gibraltar.
Das Austrittsabkommen würde weiters EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die am Ende des Übergangszeitraums im Vereinigten Königreich wohnen, und Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, die am Ende des Übergangszeitraums in einem der 27 EU-Mitgliedstaaten wohnen, sofern der Aufenthalt im Einklang mit den EU-Rechtsvorschriften über die Freizügigkeit steht, schützen.


Ungeregelter Austritt: Brexit ohne Austrittsabkommen

Dieses Szenario würde bedeuten, dass das Vereinigte Königreich, wie im Austrittsgesuch formuliert und sofern es zu keiner Verschiebung des Austrittstermins kommt (s.u.), am 29. März 2019 ohne jegliche Übergangsregelungen aus der EU austreten würde.
Damit gäbe es keinerlei Vereinbarung über die künftigen Beziehungen der EU mit dem Vereinigten Königreich. Ein ungeregelter Austritt würde mit weitreichenden Konsequenzen für den Handel zwischen Großbritannien und Nordirland und der EU einhergehen. Davon wäre auch Österreich betroffen, denn das Vereinigte Königreich ist der achtwichtigste Handelspartner Österreichs.
Betroffen wären sowohl der Handel mit Gütern als auch mit Dienstleistungen (z.B. im Finanzsektor). Weiters hätte ein ungeregelter Austritt unmittelbar negative Folgen für derzeit laufende EU-Kooperationen, insbesondere in den Bereichen Wissenschaft, Forschung, Kultur und Bildung, denn mit dem Brexit würde auch die Teilnahme des Vereinigten Königreichs am EU-Forschungsprogramm Horizon 2020 und am EU-Mobilitätsprogramm Erasmus+ mit sofortiger Wirkung erlöschen.
Für den Tourismussektor kritisch: Ungeregelt wären dann zudem z.B. Flug- und Landrechte. Da derzeit jährlich ungefähr 800 000 britische Bürgerinnen und Bürger Urlaub in Österreich machen, könnte es dadurch bei einem ungeregelten Austritt zu Einbußen im Tourismussektor kommen.

Neuverhandlung des Abkommens?

Eine Neu- bzw. Nachverhandlung des jetzt vorliegenden, ca. 650 Seiten umfassenden Abkommens, wie von der britischen Regierung wiederholt ins Gespräch gebracht, würde die einstimmige Zustimmung der im Rat versammelten EU27-Mitgliedstaaten erfordern.
EU-Chefunterhändler Michel Barnier hat zuletzt am 30. Jänner 2019 vor dem Europäischen Parlament erneut bekräftigt, dass das Ergebnis aus 2 Jahren Brexit-Verhandlungen aus Sicht der EU nicht erneut aufgeschnürt werden kann.
Die von Premierministerin Theresa May geforderten Zusicherungen für eine zeitliche Begrenzung des Backstops haben EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 14. Jänner 2019 in einem gemeinsamen Brief an Premierministerin May aufgegriffen und ausdrücklich im Sinne der Forderungen von Premierministerin May beantwortet, ohne dass sich die Pattsituation zwischen EU27 und Vereinigtem Königreich entspannt hätte.


Verschiebung des Austrittstermins möglich?

Gemäß Artikel 50 EUV kann der jetzt vereinbarte Austrittstermin (29. März 2019) von den in der EU verbleibenden 27 Mitgliedstaaten im Einvernehmen mit dem Vereinigten Königreich nur einstimmig verschoben werden.
Klar ist auch, dass eine Verschiebung des Austrittstermins für die EU27 nur in Frage kommen dürfte, wenn sich im britischen Unterhaus eine verlässliche Mehrheit für eine einvernehmliche Lösung der Situation abzeichnet.
Bei der Dauer einer möglichen Fristverlängerung für den Austrittstermin dürfte der Termin für die Wahlen zum Europäischen Parlament am 26. Mai 2019 eine entscheidende Rolle spielen: Der letztmögliche Austrittstermin wäre damit kurz vor der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Europäischen Parlaments ab 2. Juli 2019.
Mit dem Brexit werden die 73 britischen Mandate im Europäischen Parlament frei, von diesen werden 27 auf jene Mitgliedstaaten verteilt, die bis jetzt leicht unterrepräsentiert sind. Darunter ist auch Österreich, das derzeit mit 18 EU-Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten ist und durch die Umverteilung der frei werdenden EP-Mandate einen 19. Sitz im EU-Parlament erhalten wird.
Weitere Optionen wären u.a. Neuwahlen oder die Abhaltung eines zweiten Referendums im Vereinigten Königreich.
Alle Szenarien stehen angesichts des im Austrittsgesuch formulierten gewünschten Austrittsdatums am 29. März 2019 unter Zeitdruck.


EU-Kommission führt Notfallplan durch

Angesichts der sich abzeichnenden schwierigen politischen Beschlussfassung in London hat die Europäische Kommission am 19. Dezember 2018 ein Paket mit Notfallmaßnahmen vorgelegt, mit denen sich die EU27 auf den wahrscheinlicher werdenden Fall eines ungeregelten Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU vorbereitet.
Die Kommission betont darin, dass sie die Bürgerinnen und Bürger im Laufe der Verhandlungen sowie bei ihren Vorbereitungen und ihrer Notfallplanung für ein „No deal"-Szenario stets an erste Stelle gestellt hat.
Weiters appelliert die Kommission an die Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, mit denen sichergestellt wird, dass die britischen Staatsangehörigen, die zum Zeitpunkt des Austritts rechtmäßig in der EU wohnhaft sind, auch weiterhin als Personen mit rechtmäßigem Wohnsitz gelten werden.
Die in der EU verbleibenden Mitgliedstaaten ruft die EU-Kommission bei der Gewährung eines vorläufigen Aufenthaltsrechts zu einem „pragmatischen" Ansatz auf. Die Kommission hat bereits einen Vorschlag für eine Verordnung angenommen, mit dem die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs von der Visumpflicht befreit werden, sofern alle Unionsbürger ebenso von der Visumpflicht im Vereinigten Königreich befreit werden.
Was die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit betrifft, so hält es die EU-Kommission für erforderlich, dass die Mitgliedstaaten alle möglichen Schritte unternehmen, um für Rechtssicherheit zu sorgen und die Ansprüche der Staatsangehörigen von EU-27-Mitgliedstaaten und des Vereinigten Königreichs, die diese in Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit vor dem 30. März 2019 erworben haben, zu schützen.
Im Zuge der Vorbereitungen auf den Brexit hat die Europäische Kommission bisher rund 70 Brexit-Mitteilungen vorgelegt, die die Auswirkungen des Brexits auf den EU-Binnenmarkt aufgreifen, z.B. für die Vergabe öffentlicher Aufträge, die Anerkennung von Berufsqualifikationen, Datenschutz, Gesellschaftsrecht, Ziviljustiz, Verbraucherschutz, Verkehrsverbindungen zu Land, zu Wasser und in der Luft, gentechnisch veränderte Organismen (GVO), Lebensmittel- und Arzneimittelstandards, Auswirkungen auf die Rechte betroffener Bürgerinnen und Bürger etc.
Im Hinblick auf die zunehmende Wahrscheinlichkeit eines ungeregelten Austritts hat die Europäische Kommission am 30. Jänner 2019 zudem Vorschläge für zusätzliche Notfallmaßnahmen, u.a. für den Schutz von Teilnehmern am Mobilitätsprogramm Erasmus+ sowie im Hinblick auf den EU-Haushalt 2019, vorgelegt.
Die Vorschläge werden von Rat und Europäischem Parlament vorrangig behandelt, so dass sie rechtzeitig vor dem Austrittsdatum des Vereinigten Königreichs am 29. März 2019 in Kraft treten können.
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